Literaturnobelpreis 1939: Frans Eemil Sillanpää

Literaturnobelpreis 1939: Frans Eemil Sillanpää
Literaturnobelpreis 1939: Frans Eemil Sillanpää
 
Der Finne erhielt den Nobelpreis für »sein tiefes Verständnis für das Bauernvolk seines Heimatlands und die ausgezeichnete Kunstfertigkeit, mit der er dessen Leben und Verhältnis zur Natur schilderte«.
 
 
Frans Eemil Sillanpää, * Hämeenkyrö (Finnland) 16. 9. 1888, ✝ Helsinki 3. 6. 1964; 1908 Abitur in Tampere (Finnland), 1908-13 Studium der Naturwissenschaften in Helsinki, 1924-27 Zeitschriftenredakteur in Porvoo, 1936 Ehrendoktor der Universität in Helsinki, 1953 Memoiren »Aus jungen Jahren«, 1957 Memoiren und politische Essays »Mittag«.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Ein Zitat aus Sillanpääs zweitem Roman »Das fromme Elend« (1918), mit dem er erste Berühmtheit erlangte, kann in aller Kürze die Ideologie bezeichnen, die seine Romane transportiert. »Die Natur aber kümmerte sich um dergleichen gar nicht, sondern vollendete unablässig ihr Werk«. »Dergleichen«, das ist das menschliche Elend, das die Personen seiner Romane klaglos hinnehmen, ohne zu fragen, ohne aufzubegehren, denn sie sind in den großen Zusammenhang der Natur eingebunden. Der Mensch wird vom Standpunkt der Natur her gesehen, er ist in ihr geborgen, er ist vergänglich; das Leben, die Natur bleiben.
 
Folgerichtig wird nicht nach der Rolle gefragt, die der Mensch für die Gesellschaft oder die Gesellschaft für den Menschen spielt. Jede Form der Psychologisierung unterbleibt. Es sind die Kräfte des Lebens, die den Lauf der Welt bestimmen, nicht die der Gesellschaft, und die Gegenwart ist von geringerer Bedeutung als die kosmische Perspektive. Die Eingebundenheit in die Natur zeigt sich dann auch in den vielen von einem lyrischen Idealismus getragenen Schilderungen der finnischen Landschaft, insbesondere der sommerlichen Natur.
 
 Sehnsucht nach Ursprünglichkeit
 
Im Jahr 1918 übersetzte Sillanpää Maurice Maeterlincks (Nobelpreis 1911) Essaysammlung »Der Schatz der Armen«, die für sein ganzes Schaffen von Bedeutung war. Sillanpää bemühte sich um eine Synthese von Biologismus und irrationalem Ästhetizismus. In den gewaltigen Auseinandersetzungen in Finnland, die das Land im 1917/18 tobenden Bürgerkrieg in zwei Klassen, die »Roten« und »Weißen«, teilte, bezog er weder für die eine noch die andere Seite Stellung. Er propagierte einen eher abstrakten Humanismus, der die Botschaft von der Gleichwertigkeit aller Menschen, auch der sozial, geistig und seelisch benachteiligten, verkündete. Diese humanistische Einstellung wird indes dadurch relativiert, dass an der gesellschaftlichen Ordnung nicht gerüttelt wird, jeder hat Teil an der Bestimmung des Menschen.
 
In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg steht Sillanpää mit dieser Überzeugung vom ahistorisch gesehenen Urmenschlichen und der Sehnsucht nach Ursprünglichkeit keineswegs allein da, man findet in der skandinavischen wie in der deutschen Literatur durchaus vergleichbare Erscheinungen; die unkritische Aufnahme der meisten seiner Werke in Deutschland ist ein weiteres Zeichen dafür. Dieser Ideologie konnte sich auch die Schwedische Akademie nicht entziehen und verlieh ihm, nachdem er in den 1930er-Jahren schon mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war, 1939 als erstem und bislang einzigem Finnen diesen Preis.
 
 Vom Naturwissenschaftler zum Literaten
 
Geboren wurde Sillanpää in armen Verhältnissen im westlichen Finnland, doch wurde ihm der Besuch des Gymnasiums in Tampere ermöglicht, wo er 1908 das Abitur ablegte. Anschließend studierte er, von Gönnern unterstützt, Naturwissenschaften, insbesondere Botanik, ohne jedoch einen Abschluss zu erreichen. Er kehrte in seine Heimat zurück. Ab 1913 pendelte Sillanpää zwischen seinem Dorf und der Hauptstadt Helsinki. Er arbeitete als Literaturkritiker und Journalist und veröffentlichte 1916 seinen ersten Roman »Sonne des Lebens«: Während eines hellen Nordlandsommers verliebt sich ein Mann in zwei Frauen; die eine ist das naturverbundene, instinkthafte Mädchen vom Lande, die andere ist die großstädtische und daher leichtlebige Frau. Natürlich, eben »natürlich« fühlt sich der Held zur ersten hingezogen, dieser seiner Bestimmung kann er nichts entgegensetzen. Er versteht »das Sein, das Leben, die große Einfachheit«. »Das Leben« war für den Autor eine wichtige Kategorie auch in seinem nächsten Roman: »Das fromme Elend«, die erste literarische Reaktion auf den Bürgerkrieg. Die Hauptperson ist der passive Kätner mit einer unentwickelten Seele, der schon von frühester Jugend an auf der Seite der Verlierer stand. In den halbfeudalen Verhältnissen ist er ganz von dem Bauern abhängig, von dem er ein kleines Stück Land pachtet. Mehr zufällig als bewusst ergreift er im Bürgerkrieg Partei für die »Roten«, trägt ein Gewehr, mit dem er keinen einzigen Schuss abfeuert und dennoch wird er unschuldig für einen Mord, den er nicht begangen hat, hingerichtet. Keine Anklage — es ist wie es ist, es ist schon »der Frühling in den Bäumen und in der Luft über dem Friedhof zu ahnen, er verheißt abermals Vogelsang und Blumenduft und freudenvolle Tage für die heranwachsenden Menschenkinder«. Der Appell an die ewigen Werte wurde damals auch als ein Aufruf zur Versöhnung verstanden. Des Helden halberwachsene Tochter Hiltu wird zu seiner großen Freude Dienstmädchen in einem vornehmen Haus. Diese Begebenheit machte Sillanpää zum Stoff des Romans »Hiltu und Ragnar« (1923).
 
 Romantisierung des einfachen Lebens
 
In sehr viele Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt wurde der Roman »Silja, die Magd« (1931), der seinem Autor weltliterarische Berühmtheit eintrug. Wiederum wird die Botschaft deutlich: Auch das einfache Leben, auch das bescheidene Schicksal ist wertvoll. Es ist die Lebensgeschichte von Silja, der Tochter eines Bauern und einer Magd. Nach deren Tod verdingt sich Silja als Magd und wird im Bürgerkrieg Hausmädchen im Haus eines Professors. Hier verliebt sie sich in einen Studenten. Sie wird jedoch schnell verlassen, ihrer Liebe ist keine Dauer beschieden. Doch sie lebt in Erinnerung an die kurzen Augenblicke des Glücks und erträgt tapfer ihre Einsamkeit. Von der brutalen und hässlichen Umwelt wird Silja in ihrem Innern nicht berührt, ihre Seele bleibt rein. Mit 22 Jahren erliegt sie der Schwindsucht, »lächelnd ihr Schicksal vollendend«. Die romantisierende Haltung, wie sie in der Betonung der wunderbaren Natur zum Ausdruck kommt, und das stilistische Pathos verschleiern das menschliche Elend und lassen es nahezu unbedeutend erscheinen.
 
Sinnlichkeit und Naturverbundenheit, starre Typisierung und allzu starke Schematisierung der Handlung kennzeichen auch die nächsten beiden Romane »Eines Mannes Weg« (1932) und »Menschen in der Sommernacht« (1934). Sillanpääs Schaffenskraft neigte sich frühzeitig dem Ende zu: Es erschienen noch zwei Romane, ein Band mit Memoiren, »Aus jungen Jahren« (1953), und eine Sammlung mit politischen Essays und Reisebeschreibungen, »Mittag« (1956). Seine ins Deutsche übersetzten Romane, die das klischeehafte Bild der sinnlichen, naturverhafteten Menschen heller nordischer Sommernächte befördert haben werden kaum mehr gelesen, ihre humanistische Botschaft war zu undeutlich und zu unhistorisch, um dauerhafte Wirkung zu erzielen.
 
H. Uecker

Universal-Lexikon. 2012.

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